Mitte des 19. Jahrhunderts machte der deutsche Nervenarzt Leopold Auerbach unter dem Mikroskop eine erstaunliche Entdeckung.
Er fand hauchdünne Nervenzellen in der Darmwand. Ohne es zu ahnen, hatte er das zweite Hirn des Menschen gefunden – das Forscher nach ihm aufs Höchste faszinieren sollte, hielt man doch das Hirn im Kopf für den einzigen Befehlsgeber im menschlichen Organismus.
Doch weit gefehlt: Das, was wir Bauchgefühl nennen, hat durchaus seine Berechtigung. Zwischen 100 und 200 Millionen solcher Nervenzellen gibt es nämlich im Darm, und der kann erstaunlich viel – vom Kopf lässt er sich kaum was sagen. Im Gegenteil: Der Großteil der Befehle geht von unten nach oben.
Der Volksmund sagt zu Recht, dass uns „etwas auf den Magen schlägt“, wir „aus dem Bauch heraus entscheiden“ oder „Schmetterlinge im Bauch haben“. Diese Erkenntnis ist nun nicht unbedingt neu, doch was ich daran so interessant finde, ist: dass wir sie so vollständig ignorieren. Wir WISSEN, dass unser Bauchgefühl nicht trügt. Wir stöhnen oft genug: „Ich hätte auf meinen Bauch hören sollen.“ Und trotzdem tun wir es nicht.
Wie ist das möglich? Weil wir derart vernunftgesteuerte, rationale Wesen geworden sind, dass wir alles Gefühlige nicht ernstnehmen können. Wir ziehen es ins Lächerliche, wir spielen es runter, stellen es als esoterisch dar. Wir machen uns lustig über unsere Intuition. Weil man sie nicht sehen, nicht vermessen und nicht liken kann.
„Ohne unsere Intuition sind wir steuerbare Hüllen, deren Denken und Fühlen von Trends und Angeboten befüllt werden. Ohne Intuition lassen wir uns leichter Bedürfnisse einreden, die wir weder hinterfragen, noch sie dahingehend überprüfen, inwiefern sie uns weiterbringen, gerade wenn sie mit dem Anschluss zur Massendynamik locken“, schreibt Céline von Knobelsdorff in „Intuition für Rationalisten. Mehr Wissen für Mutige“, und ist es da nicht logisch, dass uns eingeredet und suggeriert wird, das Bauchgefühl sei nichts wert?
„Dass Intuition mal funktioniert und mal nicht, liegt nicht an ihrem launenhaften Wesen, sondern an unserem unbeholfenen Umgang mit ihr“, und ist es nicht kurios, dass wir diese Macht, die unser Bauch hat, nicht nutzen? Rationales Denken und Intuition schließen einander nicht aus. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir uns auf unseren Bauch verlassen können, die Wissenschaft bestätigt das in aller Deutlichkeit. Wer es nicht glaubt, kann es googeln. Auf das Bauchgefühl zu hören, ist deshalb vor allem eins: vernünftig.
Mareike Fallwickl ist Texterin und Autorin. Mail: interaktiv@svh.at