Ein 15-jähriges Mädchen wird schwanger. War es Gewalt oder Liebe? Zwei türkische Familien beschäftigen die Justiz.
Nesrin M. wuchs in Salzburg als älteste Tochter einer türkischstämmigen Familie auf (alle Namen von der Redaktion geändert). Die 19-Jährige trägt Jeans, kein Kopftuch verhüllt das schöne Gesicht. Nesrin, übersetzt „die Wildrose“, ist eines jener Mädchen aus dem türkischen Zuwanderermilieu, das die Strenge und Enge des Elternhauses verlassen wollte. Sie spielte Mädchenfußball, ging auf das Gymnasium, war „eine Einser-Zweier-Schülerin. Ich wollte Ärztin werden.“
Eine Jungfrau finden
Doch dann wurde die 14-Jährige einem sieben Jahre älteren Mann vorgestellt. Ihre Mutter und die Mutter des damals 22-jährigen Vural Ö. hätten sie im Lokal des Vaters bekannt gemacht (die Väter waren damals Geschäftspartner). „Ich wurde von der Mutter von Vural dazu gedrängt, dass ich mit ihm ständig in Kontakt bin bzw. Tee bringe etc.“, schildert Nesrin später vor dem Landeskriminalamt. Angeblich hatte Vurals Mutter eine Wette laufen, „dass sie für ihren Sohn keine Jungfrau als Frau finden wird“ (Zeugeneinvernahme Nesrin M.).
Prozess gegen das Mädchen
Ein Jahr später wurde Nesrin schwanger. Sohn Sezer, übersetzt „der Feinfühlige“, ist drei, ein quicklebendiger, bildhübscher Junge. Die intuitive Bindung und die Liebe zwischen Mutter und Sohn sind trotz der schwierigen Umstände spürbar. Denn Nesrin leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, muss als Kassierin in einem Supermarkt arbeiten, kann nicht mehr zu Hause wohnen. Ihre Schwangerschaft mit 15 hat ein schrilles und zerstörerisches Drama um die sogenannte Familienehre ausgelöst. Beide Familien befehden einander vor der Justiz. Im Zentrum steht die Frage: War es Gewalt oder Liebe, aus der heraus das Kind entstand?
Neue Beweise
Fakt ist, dass ein Strafverfahren wegen Verdachts der Vergewaltigung gegen den Kindesvater eingestellt und die minderjährige Mutter wegen Verleumdung und Falschaussage verurteilt wurde. „Die junge Frau hat im Rahmen eines Hauptverfahrens gegen sie die Verantwortung für eine wahrheitswidrige Belastung des Kindesvaters übernommen“, erklärt Marcus Neher, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Nesrins Anwalt Jörg Dostal kämpft dennoch um eine Wiederaufnahme der Ermittlungen, hat Vural Ö. auf Schadenersatz geklagt und eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft eingebracht. Es seien Fehler passiert, Zeugen umgefallen, es gebe neue Beweise, die die Staatsanwaltschaft aber nicht prüfe, sagt Dostal. „Und selbst wenn es die große romantische Liebe war“, so Dostal nichtsdestotrotz – „dieses Mädchen wurde mit einem Schlag aus der Kindheit gerissen. Ihr hat niemand geholfen, als sie schwanger wurde. Und um welche Form der Liebe handelt es sich denn zwischen einer 15-Jährigen und einem um sieben Jahre älteren Mann?“
„Mochma bissal Party“
Ist Vural Ö. das, was muslimische Feministinnen den verwöhnten Prinzensohn nennen? Der „Schatz“ seiner Mutter (Facebook) verkörpert gewisse Klischees: bricht die Handelsschule ab, arbeitet als Leiharbeiter, Kellner, Securitymann, fährt BMW, genießt das Leben, postet: „foahrma Salzburger Dult, mochma bissal partyii“, schwärmt von den „sexxy girls, die draußen unterwegs san“. Da ist Nesrin im fünften Monat schwanger und die Beziehung zerbrochen. Sie hat abgrundtiefe Angst vor den Eltern.
„So sind Brauch und Sitte“
„Die Tatbeteiligten sind beide Muslime. Eine Schwangerschaft vor der Ehe stellt für die Familie M. offenbar ein schweres gesellschaftliches Problem dar“, so die Polizei im Bericht an die Justiz. Nesrins Schulleistungen werden schlagartig schlechter, sie muss in die Hauptschule wechseln. Sie verbirgt die Schwangerschaft, spricht von Bauchweh. Als sie heimlich nach der Schule zur gynäkologischen Ambulanz des Landeskrankenhauses geht, folgen ihr Bruder und Mutter. Die will bei der Untersuchung dabei sein. Das sei „der Brauch und die Sitte in türkischen Familien“, erklärt sie. Nesrin läuft weg. Tage später erscheinen die Eltern mit der Tochter abermals auf der Ambulanz: „Die Familie wollte das Kind wegmachen lassen“, so der Polizeibericht. Und erst ab da sprach das Mädchen von sexueller Gewalt. Denn einer vom Spital alarmierten Polizeistreife gegenüber – man befürchtete Gewalt gegen das Mädchen – vertraute die eingeschüchterte 15-Jährige im Stiegenhaus an: „Ich hatte bis vor kurzem einen Freund. Wir waren bzw. ich bin immer noch verliebt und deshalb schliefen wir miteinander. Dies erfolgte einvernehmlich.“ Kurze Zeit später habe Vural sie verlassen.
„Das Problem ist der Stolz“
Auch der bestreitet jede Gewalt, erklärte der Polizei: „Sie lügt. Dahinter stecken die Angst und der Druck von ihren Eltern. Ich bin für die Eltern von Nesrin kein ordentlicher Moslem.“ Seine Familie sei weltoffen, er sei Österreicher. Der „erste Sex“ mit der Jugendlichen habe im Büro im Keller des Elternhauses stattgefunden, beschreibt Ö. die „Liebesbeziehung“. Die Eltern helfen ihm. Der Sohn werde nach einem Vaterschaftstest das Sorgerecht übernehmen, schrieb der Vater an die Polizei. „Es war keine Vergewaltigung. Beide waren knapp ein Jahr zusammen.“ Zeugen könnten dies bestätigen. „Das Hauptproblem sind der Stolz und die Ehre, die auf den Tisch gelegt werden.“ Aber man lebe in Österreich, hier werde dies „anders gehandelt“. Der Anwalt der Familie, Ludwig Hirsch, verwies auf die Unschuldsvermutung und die Verurteilung der jungen Frau und wollte sich ansonsten zum laufenden Verfahren nicht äußern.
Von Sonja Wenger